Bergetappen gab es schon so einige zu meistern, doch diese hier sollte eine der Besonderen werden. Eines der letzten großen Ziele in der Türkei war für mich Diyarbakir, von da aus sollte es dann nach Georgien weiter gehen. Dazwischen lag das Pontische Gebirge, welches es zu überqueren galt. Lange habe ich mit der Routenplanung hin und her gespielt, welches wohl die beste Route wäre. Es sollte möglichst eine ohne lange Tunnel und vielleicht auch nicht unbedingt die mit den meisten zu bezwingenden Höhenmetern werden und so ging es dann über insgesammt sechs Pässe.
Das Wetter war mir auf der gesamten Tour äußerst gut gesonnen – sonnig und bis auf zwei Tage nicht zu heiß sowie keine fiesen Gewitter in den Bergen. Genau genommen flüchtete ich sogar noch rechtzeit aus Diyarbakir, denn dort sollte es schon nur ein paar Tage nach meiner Abfahrt unerträglich heiß werden. Um es gleich vorweg zu nehmen, das hier ist die perfekte Story – es gab keine Pannen und ernsthaften Probleme, nur jede Menge Schweiß und grandiose Ausblicke.
Los ging es also in Diyarbakir, welches noch in der kargen Weite Mesopotamiens liegt. Doch keine 40 Kilometer hinter der Stadt wurde die Landschaft endlich wieder reizvoller: Es tauchten vermehrt Bäume auf, es wurde ordentlich hügelig, teilweise gab es sogar schroffe kleine Berge und in der Ferne tauchten deren große Brüder auf. Vier Tage später war Tunceli erreicht, in dessen Nähe ich für ein paar Tage ein klein wenig pausierte und die schöne grüne Natur in einem beeindruckenden Tal genoss.
Nach Tunceli ging es dann richtig hoch in die Berge. Es sollte einer der beiden heißen Tage werden, so dass ich bereits 7:00 Uhr los rollte und gegen Mittag drei oder vier Stunden im Schatten verbrachte, bis es wieder weiter ging. Die Fahrt durch das Pülümür-Tal war grandios. Das Tal war meist relativ schmal, so dass sich die Straße mal wieder ziemlich eng am Fluss entlang schlängelte. Dazu spektakuläre Felsformationen und 21 Tunnel. Moment mal – wollte ich nicht ohne Tunnel auskommen? Die 21 Tunnel auf dem Weg nach Pülümür gehörten nicht zu den Schreckgespenstern eines Radreisenden, denn sie waren alle samt äußerst kurz. Manchmal war es auch nur eine Art Betonüberbau, um die Straße vor Geröll zu schützen, meist aber urig wirkende in den Fels gehauene Durchgänge ohne großartige Betonröhren. Auch gab es auf der Strecke keinen Verkehr, der mich hätte zwischen den Fahrzeugen und der Tunnelwand zerreiben können. Nur in einem um eine Kurve führenden Tunnel musste ich eine Vollbremsung einlegen. Ursache dafür war die fehlende Beleuchtung, meine Sonnenbrille und die angenehme Temperatur im Tunnel – so dass ich auf einmal direkt vor Gruppe von Kühen stand, die sich im „abgedunkelten Kühlraum“ entspannten.
Nach einem Eis in dem Dorf Pülümür, sollten die gefühlt härtesten acht Kilometer der gesamten Gebirgsüberquerung kommen. Es war heiß, um mich herum schwirrten mindestens 50 hässliche lästige kleine Fliegen, die beim Schieben des Rades noch mehr wurden und einfach nicht von mir weichen wollten. Und es gab einige Abschnitte auf diesem Stück, wo Schieben auf dem Plan stand – dagegen war der ganze Rest echt ein Klacks. Oben angekommen hatte ich dann den ersten (und niedrigsten) Pass der ganzen Tour erreicht – den Pülümür Pass mit 1900 Metern. Die Sonne stand nicht mehr weit über dem Gebirgshorizont, es gab keinen Verkehr, die Fliegen waren wieder verschwunden und so hielt ich für eine ganze Weile inne, genoss die Ruhe sowie den Fernblick bei einer Tüte Nüsse. Danach gab es noch ein kleines Stückchen Abfahrt bis zu einem Campspot mit einem ebenso tollen Ausblick, nur in die andere Richtung.
Der nächste Morgen begann sehr gemütlich, irgendwie spürte ich noch die Anstrengungen des vorhergehenden Tages. In aller Ruhe genoss ich eine riesige Portion Porridge, packte den ganzen Krempel wieder zusammen und stellte die Bremsbeläge für die kommende Abfahrt nochmal nach. Unten angekommen, gelangte ich dann auf die D100 – eine der typisch türkischen Schnellstraßen, die unseren Autobahnen schon etwas ähneln. Der Verkehr war dort glücklicherweise nicht zu stark und schon nach ein paar Kilometern wurde ich mit einem beherzten „Çay, Çay!“ von der Straße herunter gelotst. Zwei äußerst warmherzige Speditionsfahrer hielten an einer Wasserstelle mit ihren Trucks und begannen ihr Frühstück vorzubereiten. Für sie stand natürlich außer Frage, dass ich dazu eingeladen war und mit essen musste – meine Ausrede mit der riesigen Porride-Portion von kurz zu vor zog da nicht. Es gab Rüherei mit Sucuk, Brot, Käse, Marmelade, Gurken, Tomaten und natürlich Çay. Vielen Dank für die Einladung!
Mit vollem Magen rollte ich weiter in Richtung des nächsten Passes. Rollen trifft es ziemlich gut, denn nun gab es endlich mal ein paar Kilometer flaches Terrain. Den Tag beendete ich taktisch klug am Fuße des Tepebaşı Passes, von da aus wollte ich am nächsten Morgen wieder zeitig los radeln, da es mal wieder etwas wärmer werden sollte.
Der geschmiedete Plan klappte, was bei einem Langschläfer nicht unbedingt garantiert ist. Der Pass mit seinen 2057 Metern ließ sich auf der D100 recht gut bezwingen und die für den Rest des Tages auserkorene Strecke sollte doch recht angenehm werden. Um nicht nur Berge anzuschauen, gab es nun nämlich einen kleinen Abstecher nach Erzurum. Kurz vor der Stadt zogen ein paar dunkle Wolken auf, Grund genug um an einer verlassenen Tankstelle eine Mittagspause einzulegen. Ich war schon am Essen, als ein Truck anrollte, parkte und die beiden Fahrer mir zu verstehen gaben, dass ich doch noch warten solle bis wir gemeinsam essen können. Und so saß ich wieder einmal mit zwei extrem gastfreundlichen Truckern vor deren mobiler Küche. Falls ihr euch also mal fragen solltet, was in so einer quaderförmigen Kiste unter dem Auflieger-Gestell drin ist: Eine perfekte Camping-Küche. Auch hierfür vielen Dank für die liebe Einladung!
Erzurum ist die größte Stadt Ostanatoliens und liegt mit 1950 Metern schon ziemlich weit oben. Auf Grund dieser Lage ist es wohl eine der kältesten Städte der Türkei, was ich schon allein durch meine gelegentlichen „Rundum-Wetterchecks“ bestätigen kann. Befreundete Radler hatten nur kurze Zeit vorher auf dem Weg nach Erzurum noch ganz schön mit der Kälte zu kämpfen. Aber wie Eingangs schon erwähnt, ich konnte nicht über schlechtes Wetter klagen und genoss angenehm sommerliche Temperaturen in der Stadt. Architektonisch gibt es dort auch ein paar Dinge zum Bestaunen: Zwei Medressen, die Große Moschee, die drei Saltukischen Gräber, die Burg sowie Gebäude im typisch osmanischen Stil.
Nachdem die Taschen wieder mit reichlich Essen für die nächsten Tage gefüllt waren, ging es nochmal ein kleines Stück auf der D100 zurück, bis zum Abzweig in Richtung Ispir. Die Straße war nun wieder viel kleiner und der Verkehr keiner Rede wert. Anfangs führte die Straße durch ein grünes und mit einigen Bäumen bestücktes Tal. Doch jede weiter es nach oben ging, desto karger wurde wieder die Landschaft. An einer Stelle passierte ich die Baustelle eines zukünftigen Tunnels und danach war was den Verkehr an ging wirklich tote Hose. Mit dem Dallikavak Pass und seinen 2349 Metern gab es einen neuen Höhenrekord, bevor es wieder etwas nach unten ging. Die Landschaft hier war absolut karg aber trotzdem grün. Überall flossen zahlreiche kleine Bäche, welche die Wiesen mit Wasser versorgten. Es rollte so gut, dass ich noch kurz vor Sonnenuntergang den Ağzıaçık Pass (2248 m) erreichte – kein schlechter Ort, um da das Zelt aufzuschlagen.
Am darauf folgenden Tag ging es weiter durch die kargen weiten Täler des Pontischen Gebirges. Von allen Seiten thronten mächtige Gebirgszüge, dazwischen waren grüne Weiten, hin und wieder tauchten kleine Dörfer oder eher Siedlungen auf, manchmal auch nur eine Mini-Moschee. Natürlich gab es auch an diesem Tag wieder einen Pass. In ein paar schattigen Ecken lag auf dem 2380 Metern hohen Gölyurt Pass sogar noch etwas Schnee. Die folgende Abfahrt war kurz aber steil. Ich war definitiv in der „richtigen Richtung“ unterwegs, denn nach nur 18 Kilometern war ich 1200 Meter weiter unten und wurde von der Hitze fast erschlagen – Zeit für ein Eis.
Die nächste Etappe wirkte nicht gerade einladend: Auf 35 Kilometern sollte es 1600 Meter nach oben gehen. Es war wieder recht warm und sonnig und so stellte ich mich auf einen Zweitages-Ritt ein. Doch letztendlich entpuppte sich dieser Abschnitt als recht harmlos. Die Straßenqualität war exzellent, denn es handelte sich zum größten Teil um die frisch ausgebaute Anfahrt zum längsten Tunnel der Türkei – dem Ovit Tunnel mit 14 Kilometern. Doch ich hatte es nicht auf dem Tunnel abgesehen, sondern auf den Ovit Pass. Mit 2640 Metern ist er der höchste aspahltierte Pass der Türkei und bisher auch der höchste Punkt, den ich mit dem Tier erreicht habe. Als ich die Tunneleinfahrt hinter mir gelassen hatte, wurde die Straße wieder schmal und komplett ruhig. Und die Landschaft so richtig grandios. Um mich herum gab es jede Menge Schnee, zwei oder drei kaum bewohnte Dörfer und absolut alpine Stimmung. Es war gerade mal 17 Uhr, als ich den Pass erreichte. Links und rechts von der Straße befanden sich noch dicke Schneewände aber auch der Rest der Umgebung war schneebedeckt. Mein Adrenalinpegel passte sich der Höhe an. Ich tanzte vor Freude auf der Straße und schoss albern wirkende Beweisfotos am Passschild. In solch einer alpinen Umgebung – Regionen, die ich bisher nur wandernden Fußes erschlossen hatte – da auf einmal mit dem Fahrrad angekommen zu sein, das war schon etwas ganz Besonderes. Überhaupt liebe ich diese alpinen Landschaften sehr. So war auch schnell klar, dass die Nacht oben auf dem Pass verbracht werden musste – gleich wieder hinunter rollen und diese geniale Landschaft hinter mir zu lassen – no way!
Viele Optionen für die Zeltplatzwahl gab es nicht, überall lag Schnee der aber doch schon im Begriff war langsam zu tauen. Doch gleich neben dem Passschild gab es ein freies, ebenes Plätzchen. Hoffte ich noch während des Zeltaufbauens auf eine sternklare Nacht für geniale Nacht-Aufnahmen mit schneebedeckter Kulisse im Hintergrund, so wurde diese Hoffnung kurz darauf durch aufziehenden Nebel enttäuscht. So ist das nunmal in den Bergen. Der Winterschlafsack freute sich dagegen endlich mal wieder zum Einsatz zu kommen und so mummelte ich mich trotzdem glücklich und zufrieden für die Nacht ein.
Der letzte Tag der Gebirgsüberquerung sollte nochmal ein besonderes Highlight werden. Noch während des Morgen-Kaffees verzogen sich die letzten Wolken – wie eine Art Vorhang der den Blick auf die Theaterbühne frei gibt. Was für eine atemberaubende Landschaft. Auf den ersten Metern der 50 Kilometer langen Abfahrt hielt ich ständig an, um die alpine Landschaft richtig in mich hinein zu saugen und unzählige weiterer Bilder zu knipsen. Zahlreiche unbeseitigte Steinschläge auf der Straße zeugten davon, dass diese nicht mehr intensiv genutzt wird, seit des den Tunnel gibt. Gleichzeitig zeigen sie aber auch die Mächtigkeit, die das Gebirge so hat.
Irgendwann war die andere Seite des Ovit-Tunnels erreicht und ab da änderte sich so einiges. Über mir tauchten Wolken auf und um mich herum wurde es grün. Je tiefer es ging, desto grüner wurde es. Ein Grün, dass mit den grünen Weiden und Ackerflächen der letzten zwei Monate nichts gemeinsam hatte. Ich fuhr durch ein enges Tal, welches super dicht bewaldet war. Dazu tief hängende Wolken und hin und wieder ein paar Schauer. Ziemlich weit unten waren die nicht bewaldeten Hänge mit einer grünen, plantagenartigen Schicht überzogen – sowas hatte ich schon mal in irgendwelchen Filmen gesehen: Tee-Plantagen. Dazu tauchten auch jede Menge mit Teeblättern beladene LKWs auf oder wurden gerade mit Tee belanden. Es ging noch ungefähr 15 Kilometer durch das wolkenverhangene und mit Teeplantagen gespickte Tal und dann stand ich auf einmal am Schwarzen Meer. Von 2640 Metern runter ans Meer, kompleter Szeneriewechsel – was für ein Tag. Wow. Erstmal Eis holen, hinsetzen und wirken lassen.
Der Ovit Pass war für mich der absolute Scheidepunkt zwischen Anatolien und Schwarzmeerküste: Zwischen karger, weiter, trockener Landschaft und einer feuchten, absolut grünen, schon fast Dschungelartig wirkenden Region. Die Wolken diesen letzten Tages sollten mich noch die nächsten Tage an der Schwarzmeerküste begleiten, auch die hin und wieder auftretenden kleinen spontanen Regenschauer. Ebenso die Teeplantagen, irgendwo muss ja auch der ganze Çay her kommen, der an jeder Ecke in der Türkei getrunken wird.
Die Runde einmal selbst radeln?
Bei Komoot findest du die Route zum Nachradeln, falls du gerade mal einen freien Nachmittag hast oder so …
Reisezeit: Mai/Juni 2022
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