Ein Jahr auf Radreise

Nun bin ich bereits ein Jahr auf Radreise – ein ziemlich langer Zeitraum, auch wenn es sich noch nicht so lange anfühlt. Blicke ich jedoch auf das bisher Erlebte, die gewonnenen Bekanntschaften und Freunde, die besuchten Orte und die gefahrenen Kilometer zurück, scheint ein Jahr dafür viel zu kurz zu sein. Und das trotz des langsamen, bewussten Reisens mit dem Fahrrad. Mittlerweile kann ich mir gar keine andere Art des Reisens mehr vorstellen, um ein Land richtig kennen zu lernen. Mit dem Fahrrad ist es einfach die perfekte Reisegeschwindigkeit – langsam genug um so viel zu sehen, Dinge zu beobachten die bei einer Auto- oder Busfahrt einfach nur vorbei fliegen. Mit dem Rad spüre ich richtig die Veränderungen um mich herum, bin aber trotzdem schnell genug unterwegs, um ein ordentliches Stückchen voran zu kommen. Und dann ist da noch der Kontakt zu den Menschen – auf dem Rad befindet man sich eben nicht in einer abgeschlossenen Kapsel, man ist offen, wird ganz anders wahrgenommen und kommt mit so vielen Menschen in Kontakt. Wenn der verrückte Verkehr nicht wäre und sich der Regen nicht manchmal Tage lang hin ziehen würde, wäre es absolut perfekt. Aber ich will hier keinesfalls meckern.

Wie sehr ich diesen Reisestil lieben würde, hätte ich vorher nicht erwartet – war das Rad doch erstmal nur als Transportmittel gedacht. Mit großen Tönen „für eine ganze Weile unterwegs zu sein“ ging es los, dabei wusste ich insgeheim nicht mal, ob ich die ersten drei Monate aushalten werde oder die ersten kalten sowie nassen Wochen. Die überwiegende Zeit einfach draußen zu sein, den Elementen zu trotzen, ständig im Zelt zu übernachten, mit drei Unterhosen auskommen, mit einem begrenzten Budget klar kommen, ständig unterwegs zu sein und immer wieder Neuem zu begegnen. Ich hatte schon einigen Respekt vor dem, was mich da erwarten würde.

Mittlerweile denke ich, mich ganz gut in dieses Reiseleben eingefunden zu haben, bezeichne mich nun auch als Radreisenden. Die anfänglichen Bedenken sind verschwunden und im Moment gibt es auch keinen Grund ans Abbrechen zu denken. Es fühlt sich gerade verdammt gut. Es war absolut richtig diese Entscheidung getroffen zu haben einfach raus in die Welt zu radeln. Natürlich ist nicht jeder der vergangenen 365 Tage perfekt gewesen, oft gab es einige Probleme, Freunde und Familienangehörige sind weit weg. Doch trotzdem war es das alles bisher absolut wert.

So pathetisch wie das auch klingen mag, ich spüre jeden Tag eine unglaubliche Dankbarkeit dieses Leben gerade führen zu können. Dankbarkeit zum einen gegenüber den ganzen Helfern und Unterstützern von zu Hause. Menschen die bei der Vorbereitung geholfen haben, die jetzt während der Reise von fern daheim helfen oder einfach nur einen Kommentar hier im Blog hinterlassen, eine Mail schreiben oder auf andere Weise „Hallo“ sagen. Zum anderen aber auch eine unglaubliche Dankbarkeit gegenüber den ganzen Einheimischen die mir hier unterwegs Hilfe, Unterstützung oder kleine Aufmerksamkeiten zukommen lassen. Menschen die mich nicht kennen, nichts haben und trotzdem alles geben – es fällt mir oft schwer diese Dinge anzunehmen. Situationen wie zum Beispiel neulich auf dem Markt: Warum soll ich als „Reicher aus dem Westen“ nicht für meinen Beutel mit Obst und Gemüse zahlen, wo doch die zahnlose freundliche Verkäuferin garantiert auf jeden Lari angewiesen ist? Situationen wie diese gibt es zahlreiche und es ist schwierig sich darauf einzulassen, als jemand der aus einer materialistischen Welt in eine völlig andere reist.

Mein Platz im deutschen Elfenbeinturm war mir schon vor der Reise ziemlich bewusst (ein Platz ziemlich weit oben in diesem Turm – schließlich konnte ich mit ruhigen Gewissen meine Stelle im öffentlichen Dienst für diese Reise einfach mal aufgeben). Doch mit fortschreitender Reise wird mir diese privilegierte Position immer stärker bewusst. Auf der Route nach Osten wird zum einen der deutsche Pass immer wertvoller und zum anderen sinkt das Einkommen in den Ländern immer mehr im Vergleich zu dem in Deutschland. Ja auch in Deutschland gibt es gerade eine heftige Inflation und zahlreiche Menschen haben Probleme um die Runden zu kommen, mögen bei weitem nicht so privilegiert sein wie ich. Doch in Ländern wo es keinen Sozialstaat gibt, Korruption an der Tagesordnung ist und die Inflation einfach mal noch viel viel heftiger durch die Decke geht, erscheinen die Probleme in Deutschland banal. Oft treibt mich in letzter Zeit die große Gerechtigkeitsfrage. Es macht etwas mit mir für Wochen durch Gegenden zu radeln und Wohnhäuser zu sehen, bei deren Anblick ich froh bin, nicht darin wohnen zu müssen. Oder zwei Tage lang durch einen Wald zu fahren, wo hinter jeder Ecke Menschen sitzen, die frisch gesammelte Pilze anbieten. Sie sitzen da bei Regen unter einer improvisiert gespannten Plane, haben ein kleines Lagerfeuer um sich etwas zu wärmen und versuchen die Pilze los zu werden. Pilze über Pilze – aber niemand da der sie kauft. Oder die Melonenstände an den Straßen, manchmal reihen sich fünf bis sechs Stände auf nur einem halben Kilometer aneinander. Alle mit dem selben Angebot: Wasser- sowie Honigmelonen, in solch großen Mengen dass diese garantiert nicht verkauft werden. Doch die Verkäufer leben davon, müssen davon leben. Oder die ganzen Fahrzeuge die auf den Straßen unterwegs sind: Zerbeult ohne Ende, fehlende Verkleidungen, die dicksten Rauchschwaden ausstoßend, mit Geräuschen als wenn sie jeden Augenblick das Zeitliche segnen würden. Dazu natürlich an jeder Ecke Werkstätten, an denen diese Fahrzeuge repariert werden oder liegengebliebene Fahrzeuge an denen gerade geschraubt wird, um wieder weiter fahren zu können. Fahrzeuge die entweder schon Jahrzehnte alt oder aber aus mindestens dritter Hand aus dem reichen Westen importiert wurden. Das sind nur ein paar Beispiele, Beispiele die ich natürlich auch schon aus Dokumentionen oder anderen Berichten kenne. Doch es ist etwas ganz anderes sich selbst für eine längere Zeit durch diese Welt zu bewegen. Mit dem ganzen teuren Equipment was ich dann mit mir herum schleppe – dabei wissend, dass wenn etwas kaputt geht sich dieses schon irgendwie recht einfach ersetzten lässt – wirkt das geradezu skurril und ist doch schon irgendwo manchmal etwas beschämend.

Dieses Jahr hat also schon etwas mit mir gemacht, es hat aber nicht nur meine Augen mehr geöffnet für die Probleme unserer Welt. Ich habe noch so viel mehr gelernt. Gelernt über die Menschen und ihre Kultur, ihre Geschichte. Gestaunt über atemberaubende Landschaften, wunderschöne Natur und ich die Freiheit in dieser genossen. Sehr oft war ich aber einfach nur frustriert über den teilweise fehlenden Respekt der Menschen im Umgang mit dieser wunderbaren Natur. Dazu wird es hier demnächst noch einen ausführlicheren Beitrag geben.

Hin und wieder kommt die Frage nach dem „schönsten oder besten Land bisher“. Eine Frage die echt schwer zu beantworten ist – gab es doch überall Dinge die mir sehr gut gefallen haben. Mit Sicherheit ist es nicht ein ganz bestimmtes Land, landschaftlich sind es aber definitiv bergige Regionen oder richtige Gebirge die mir bisher die meiste Freunde bereitet haben. Das sind einfach Landschaften, die mich am meisten beeindrucken, wo ich mich an den ganzen Aussichten nicht satt sehen kann. Irgendwie passt da ja auch das Logo der Website ganz gut dazu. Kulturell gesehen sind es Regionen in denen mir die Menschen sehr offen begegneten. Da sticht natürlich bisher die Türkei oder auch Kurdistan heraus, aber auch hier in Armenien, wo ich gerade diese Zeilen verfasse, gibt es unglaublich viele kommunikationsfreudige, gastfreundschaftliche Menschen, die eine Reise in diese Gegend zu etwas ganz Besonderem machen.

Die schönen und besonderen Moment habe ich hier schon oft im Blog vorgestellt. Von Problemen und unangenehmen Zeiten aber auch schon öfter geschrieben. Immer wieder kehrendes Thema ist dabei da Wetter – ganz klar, wenn der überwiegende Teil meines aktuellen Lebens nun mal draußen stattfindet. Wenn ich mich zurück erinnere, gab es bisher drei extrem anstrengende und belastende Schlechtwetter-Perioden auszuhalten: Das erste mal als es in den Bergen von Kroatien so richtig kalt und die Tage dazu noch kürzer wurden. Es war das erste mal, dass ich ernsthaft mit der kalten Jahreszeit konfrontiert war und mich daran gewöhnen musste. Als der Kopf sich darauf eingelassen hatte, kam ich damit aber auch ganz vernünftig klar. Dann gab es drei Wochen fast unablässig Regen gegen Ende November / Anfang Dezember. Ursprünglich wollte ich da noch ein paar bergige Regionen Albaniens auskundschaften, musste davon dann aber wegen der aufgeweichten Schotterwege abblasen und rollte statt dessen nach Griechenland weiter. Aber auch dort hatte ich in den ersten Tagen ganz schön mit dem Regen zu kämpfen und schützende Unterkünfte lagen da einfach nicht im Reisebudget. Die letzte extrem unangenehme Schlechtwetterfront gab es dann im März. Gerade wieder nach dem Workaway in Griechenland auf der Straße und voller Vorfreude nun bald die Türkei zu erreichen, wurde es ein wahrer Kampf auf der Straße. Die Temperaturen sanken nochmal so tief, dass das Olivenöl zur Creme wurde und es früh morgens immer galt das gefrorene Wasser in den Trinkflaschen erstmal mit dem Kocher wieder aufzutauen. Tagsüber wechselte das Wetter ständig zwischen leichtem Sonnenschein, Regen und Schneeregen. Dazu war es kalt und es gab oft Gegenwind.

Doch nicht nur das Wetter kann zermürbend sein, es gab auch eine Phase auf der Reise, in der ständig irgendetwas kaputt ging. Meistens so sehr kaputt, dass es sich nicht einfach reparieren ließ und schlicht weg ausgetauscht werden musste. Mittlerweile habe ich mich auch damit abgefunden und dies als den Lauf der Dinge akzeptiert. Diese Form des Reisens macht vermutlich ein ganzes Stück widerstandsfähiger und entspannter gegenüber unerwarteten Situationen.

Gesundheitlich hatte ich bisher Glück. Der kleine Unfall in Montenegro verlief glimpflich, die Lebensmittelvergiftung in Gaziantep war auch irgendwann ohne Nachwehen überstanden und von Corona wurde ich glücklicherweise bisher verschont. Brenzlige Situationen auf der Straße gab es schon so einige, doch bisher gab es noch keine Kollisionen mit verrückten PKW- oder LKW-Fahrern. Auch die Menschen wollten mir bisher stets Gutes. Genauso darf es dann auch für das nächste Jahr weiter gehen!

Kommentare

2 Antworten zu „Ein Jahr auf Radreise“

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    Andreas

    Das hier zu lesen,
    dich zu kennen
    und gefühltes Backseat-Journeying.

    Tolle Sache.

    Mal gucken wo du in einem Jahr steckst.

    LG von der Ostsee

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      Ja, da bin ich auch sehr gespannt. Hoffentlich sind dann wieder ein paar mehr Grenzen offen, sonst wird das nichts mit so einfach über Land weiter radeln.

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